6
Die Sonne strahlte durch das Zimmerfenster. Ärgerlich, weil sie verschlafen hatte, sprang Jo aus dem Bett und in ihre Kleider und putzte sich hastig die Zähne. Nachdem sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sich die Bluse zugeknöpft hatte, rannte sie in die Küche, wo die Uhr zu ihrem Entsetzen bereits zwanzig nach acht anzeigte. Sicher war Linda schon zu ihrer Runde mit dem Tierarzt aufgebrochen. Elaine saß auf einem großen Holzstuhl am Fenster und ging ihre Liste für den Tag durch.
»Keine Panik, Jo, mein Kind«, meinte die Großmutter, als sie die Miene ihrer Enkelin bemerkte. »Wir haben zwar zum Glück nicht viele kranke Fohlen, aber es gibt um diese Jahreszeit für eine Tierpflegerin und zwei Pferdeburschen trotzdem genug zu tun. Sicher werden sie sich über deine Hilfe freuen.«
»Warum hast du mich nicht geweckt, Gran?«, stöhnte Jo, steckte sich die Bluse in den Hosenbund und griff nach der Schachtel mit den Frühstücksflocken.
»Ich habe es nicht übers Herz gebracht, mein Kind. Als ich gegen sieben zur Tür hineingeschaut habe, hast du tief und fest geschlafen. Schließlich sind wir erst sehr spät zu Bett gegangen. Vor ein paar Minuten hat mich Linda aus dem Büro angerufen. Wenn du dich mit dem Frühstück beeilst, triffst du sie noch auf ihrer Runde mit Phillip Gregg, dem neuen Tierarzt. Sie sind entweder mit dem Hufschmied in Scheune eins oder unten in der Krankenstation. Eines der neuen Fohlen hat eine schlimme Kolik. Ich werde später selbst nach dem Rechten sehen.«
Sie machte sich rasch eine Notiz in ihren Kalender. Die armen kleinen Fohlen. So viele bekamen gleich nach der Geburt schweren Durchfall. Obwohl es in diesem Jahr nur wenige Fälle gegeben hatte, würde die Anzahl der Erkrankungen sicher steigen, sobald das Wetter wärmer wurde. »Nimm deine Jacke mit, Kind. Es ist trotz der Sonne ziemlich kühl draußen«, fügte sie hinzu.
Jo schlang eine Schale mit Frühstücksflocken hinunter, kippte ein Glas Orangensaft hinterher und riss ihre Jacke von dem Haken, an dem sie sie am Vorabend aufgehängt hatte.
»Danke, Gran, bis später.« Grinsend stürmte sie zur Tür hinaus. »Du kannst nachher mitkommen, alter Junge«, meinte sie zu Sam und tätschelte ihn rasch, bevor sie über die Veranda und dann zu den Scheunen hinter der Koppel lief, wo die Zuchtstuten und ihre Fohlen untergebracht waren.
Die Pferde standen da und säugten ungerührt ihren Nachwuchs, als Jo vorbeihastete. Nur einige junge Stuten erschraken über die plötzliche Bewegung, legten die Ohren an und scheuchten ihre Fohlen zum anderen Ende der Koppel.
Großmutter hatte recht. Seit gestern Abend hatte der Wind ziemlich aufgefrischt, fuhr unter Jos Bluse und zerrte an ihrem Haar. Eilig schlüpfte sie beim Rennen in ihre Jacke und zog den Reißverschluss bis zum Kinn. Jo erreichte Scheune eins, und die Pferde streckten neugierig die Köpfe aus ihren Boxen. Ein Hahn stolzierte majestätisch oben auf dem Rand einer Boxenwand entlang. Sein Ehrfurcht gebietendes Krähen übertönte die Stimmen des Hufschmieds und des jungen Pferdepflegers, die gerade mit einem drei Monate alten Fohlen beschäftigt waren. Rasch sah Jo sich um: von Linda und dem Tierarzt keine Spur. Bibbernd vor Kälte, wünschte sie, sie würde mehr bekannte Gesichter sehen, doch in den letzten beiden Jahren hatten in Dublin Park einige personelle Veränderungen stattgefunden.
»Sie ist drüben bei den kranken Fohlen«, verkündete der Stallbursche mit einem breiten irischen Akzent und wies mit dem Kopf in Richtung Tür. »Aber pass auf, was du sagst. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen und hat sehr schlechte Laune.«
»Danke für den Tipp«, erwiderte Jo und lief hinaus.
Linda saß in der dritten Box der Krankenstation auf einem Strohhaufen. Sie trug einen weißen Schutzanzug und Gummihandschuhe. Den Rücken an die Wand gelehnt, versorgte sie ein dehydriertes, vier Tage altes Fohlen, das schweren Durchfall hatte. Der Kopf des Fohlens ruhte auf ihrem rechten Bein. Rechts von ihr hing an einer Heugabel ein halb voller Beutel mit einer klaren Flüssigkeit. Der Schlauch endete an einem Katheter im Hals des Fohlens, der von einem Verband festgehalten wurde. Daneben stand die Stute, eine Braune mit freundlichen Augen, die ihr krankes Fohlen unablässig leckte.
»Sie trinkt seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr, Sue, wir müssen sie weiter mit Flüssigkeit vollpumpen«, sagte Linda zu dem pummeligen dunkelhaarigen Mädchen, das über einem dicken Pulli ebenfalls einen Schutzanzug trug und etwas in ein Buch notierte. Linda unterdrückte ein Gähnen und überprüfte Herzschlag und Atmung des Fohlens. »Phillip soll es sich noch einmal ansehen, wenn er zurückkommt. Aber ich glaube, es wäre das Beste, diesen Beutel aufzubrauchen und ihm in ein paar Stunden noch zwei Liter Hartmannlösung zu geben.«
»Soll ich das Füttern übernehmen?«, erbot sich Jo. Sie spähte in die Box und bemerkte Lindas hängende Schultern und die dunklen Schatten unter ihren Augen. Da ihre eigene Schulter nur noch hin und wieder protestierte, hatte sie keine Angst vor schwerer körperlicher Arbeit. »Ich weiß, nach welchen Pferden ich schauen und worauf ich achten muss.«
Das Fohlen zuckte erschrocken zusammen und blickte sich furchtsam um.
»Na, bist du aufgewacht?«, meinte Linda liebevoll zu dem Pferdchen, machte sich los und stand auf. »Ich muss mich um die Stuten kümmern«, sagte sie kurz angebunden, drängte sich an Jo vorbei und zog sich dabei die dünnen Gummihandschuhe aus.
Sie hatte nur drei Stunden geschlafen, und ein übereifriges Schulmädchen aus der Stadt bei Laune halten zu müssen, hatte ihr gerade noch gefehlt. Nachdem sie Sue angewiesen hatte, zwei weitere, nur leicht erkrankte Fohlen zu versorgen, schlüpfte sie aus dem Schutzanzug und hängte ihn an einen Haken neben die Box.
»Hol Nick, falls du noch Hilfe brauchst, und wenn sich am Zustand des Fohlens etwas verändert, funk mich sofort an.«
Sie tauchte ihre Stiefel in die Desinfektionswanne an der Tür und warf Jo einen raschen Blick zu.
»Wenn du dich nützlich machen willst, schnapp dir einen der Jungs und lade die Futtersäcke hinten auf meinen Lieferwagen. Ich bin gleich zurück. Und vergiss nicht, dir die Füße zu desinfizieren, bevor du hinausgehst«, fügte sie hinzu und verschwand im abschließbaren Medikamentenlager.
Jo verkniff sich eine patzige Antwort, tauchte ihre Stiefel in die Wanne und machte sich auf die Suche nach den Futtersäcken.
»Ich werde dich auf dem Rückweg mit einer unserer wundervollen Ammenstuten bekannt machen«, sagte Linda bei ihrer Rückkehr etwas weniger unfreundlich. Sie hatte bemerkt, wie tüchtig Jo beim Verladen der Futtersäcke gewesen war.
»Wirklich?«, rief Jo. Sie mutmaßte, dass damit die gutmütigen Zugpferde gemeint waren, die als Ersatzmütter für die verwaisten Fohlen fungierten. Großmutter hatte erwähnt, dass sie drei weitere davon angeschafft hatte. Das hieß, dass es in diesem Jahr insgesamt sechs auf dem Gestüt gab. »Aber ich kann warten. Wahrscheinlich hattest du letzte Nacht sehr viel zu tun«, fügte sie hastig hinzu.
Linda nickte.
»Ich wünschte, ich wäre da gewesen, um dir zu helfen«, seufzte Jo sehnsüchtig.
»Wir sollten uns besser beeilen. Das Wetter gefällt mir gar nicht«, erwiderte Linda und ließ den Wagen an.
Jo blickte nach Westen, wo sich dunkle Wolken zusammenballten. Der Lieferwagen holperte über den langen Kiesweg zu den Koppeln, wo trächtige und nicht trächtige Stuten weideten. Sobald die Pferde das Fahrzeug erblickten, kamen sie herbeigestürmt, um es zu begrüßen. Sie beschwerten sich mit fliegenden Mähnen und vom kalten Wind gepeitschten Schweifen laut wiehernd darüber, dass ihr Frühstück so spät kam.
»Wie lange arbeitest du schon in Dublin Park?«, erkundigte sich Jo auf der Fahrt zur nächsten Koppel.
Linda wurde allmählich ein wenig zugänglicher.
»Seit einem halben Jahr. Es gefällt mir sehr gut hier. Mrs Kingsford ist eine wundervolle Chefin. Tut mir leid, dass ich vorhin so muffig war, aber ich habe in den letzten Tagen kaum geschlafen …«
Sie wurde vom Funkgerät unterbrochen. Sue meldete, dass es dem Fohlen gut ging. Allerdings habe sich eine der jungen Stuten erschreckt, sei in den Zaun gerannt und nun schwer verletzt. Der Tierarzt hatte vor zwanzig Minuten das Gestüt verlassen.
»Bring sie beide in den Hof, Sue, und versuch weiter, Phillip zu erreichen. Ich bin unterwegs«, sprach Linda ins Mikrofon.
Die Lippen zusammengepresst, wendete sie das Fahrzeug und steuerte auf die Ställe zu. Verdammt, der heutige Tag versprach offenbar, ein Albtraum zu werden.
»Ich mache für dich weiter«, erbot sich Jo, während sie zurückrasten. »Es ist nur noch eine Koppel mit trächtigen Stuten zu versorgen. Anschließend füttere ich die nicht trächtigen Tiere und die Jährlinge auf der westlichen Koppel.«
Linda nickte dankbar.
Nachdem sie Linda bei der verletzten Stute zurückgelassen hatte, fuhr Jo auf der Schotterstraße zurück und sang dabei fröhlich vor sich hin. Schon am zweiten Tag ihres Besuches durfte sie die Stuten füttern. Es gab keinen Grund zur Besorgnis, denn diese Stuten würden in frühestens drei bis vier Wochen fohlen. Linda hatte ihr das erklärt und Jo außerdem versichert, dass sie erst gestern persönlich nach den Tieren gesehen habe.
Jos Wangen waren von der Kälte gerötet. Gerade hatte sie die Hälfte der Einzeltröge gefüllt, die aus auseinandergeschnittenen alten Autoreifen bestanden, als sechs trächtige Stuten auf sie zugestürmt kamen. Ihre Mähnen und Schweife flogen, und der Wind zerzauste ihr schimmerndes, straff gespanntes Fell. Jo musterte sie sorgfältig, um sich zu vergewissern, dass keines der Tiere lahmte oder eine andere Verletzung aufwies. Lächelnd füllte sie dann die restlichen Futtertröge und sah belustigt zu, wie die Anführerin der Herde die anderen grob beiseite stieß, um ihre Vormachtstellung zu beweisen, und wie alle anderen um einen Platz beim Futter kämpften.
»Alles Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.« Das war für Jo eine unumstößliche Wahrheit.
Sie ging um die Herde herum, um die Tiere noch einmal zu begutachten. Als sie den Blick über die Koppel schweifen ließ, sah sie ein Pferd, das im Schatten der Bäume verharrte. Besorgt holte sie einen kleinen Beutel aus Lindas Wagen und ging mit einer Hand voll Luzerne auf die große braune Stute zu. Es war meist kein gutes Zeichen, wenn eine Zuchtstute die Nahrung verweigerte. Jo kam näher und erkannte das Pferd an der strahlend weißen Blesse und einer weißen Fessel. Das musste Bountiful Lass sein, die Stute, von der ihre Großmuter beim Betrachten der Fotos so geschwärmt hatte – die wertvollste Zuchtstute von Dublin Park.
Jo war aufgeregt; sie hielt Bountiful Lass das Futter hin. Aber die Stute zeigte nicht das geringste Interesse daran. Stattdessen ging sie hin und her und drehte sich suchend in alle Richtungen und beschnupperte den Boden, als hielte sie Ausschau nach einem Platz, um sich zu wälzen.
Vielleicht steckte ja nichts dahinter, dachte Jo voller Hoffnung.
Sie ging näher heran, streichelte das Pferd sanft und untersuchte es erneut auf Verletzungen oder Anzeichen von Lahmheit. Als sie nichts entdecken konnte, warf sie einen Blick zwischen die Hinterbeine der Stute, um sich das Euter anzusehen. Die Zitzen waren zwar geschwollen, sonderten aber keine Milch ab. Beim Zurücktreten stellte Jo fest, dass sich die Vulva von Bountiful Lass geweitet hatte. Offenbar war die Stute im Begriff, ihr Fohlen zur Welt zu bringen.
»Aber es ist doch noch gar nicht so weit«, rief Jo erschrocken.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen sah sie zu, wie die prachtvolle Stute in Kauerstellung ging. Anscheinend wollte sie direkt vor Jos Augen ihr Fohlen bekommen. Eine halbe Minute später sprang Bountiful Lass auf, um sich kurz darauf wieder hinzukauern. Jos Begeisterung wurde von Panik abgelöst. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hatte schon zu viele Stuten in den Wehen erlebt, um eine Risikogeburt nicht zu erkennen. Nervös rannte sie zum Auto zurück und funkte die Krankenstation an. Sie bekam einen jungen Stallburschen an die Strippe.
»Linda sagt, es ist unmöglich, dass das Fohlen schon kommt«, beharrte er, nachdem er Jo fast eine Ewigkeit hatte warten lassen.
»Ich muss sofort mit Linda sprechen«, protestierte Jo.
Sie kaute hektisch an ihren Fingernägeln. Wenn die Fruchtblase der Stute jetzt platzte, würde sie auf der Stelle einen Tierarzt brauchen. Und falls das Fohlen dann nicht innerhalb einer halben Stunde kam, bestanden nur wenig Chancen, es zu retten. Das war das Risiko einer Abfuhr von Linda wert. Die Stute rutschte unruhig hin und her und stöhnte.
Endlich kam Linda an Apparat.
»Bountiful Lass ist in frühestens drei Wochen fällig. Wahrscheinlich hat sie eine leichte Kolik«, schimpfte die Tierpflegerin. »Heute ist es ziemlich windig, und die Pferde sind nervös. Außerdem habe ich ein verletztes Tier hier. Ich lasse die Stute in die Geburtskoppel bringen, sobald ich jemanden entbehren kann.«
Jo spürte, wie Panik in ihr aufstieg.
»Nein, nein! Linda, hör mir zu. Bitte, verlier keine Zeit. Mit der Stute stimmt etwas nicht«, schrie sie ins Funkgerät. »Bitte, Linda. Ich habe genug Stuten in den Wehen erlebt, um zu erkennen, dass es Probleme gibt. Du musst sofort den Tierarzt rufen …«
Ein schnarrendes Geräusch ertönte, und dann war die Leitung tot. Entgeistert starrte Jo auf das Mikrofon in ihrer Hand. Hatte die dumme Pute denn gar keine Ahnung von Pferden? Wenn nicht sofort etwas unternommen wurde, bestand Gefahr, dass sie nicht nur das Fohlen, sondern auch die Stute verloren. Das würde Großmutter Jo niemals verzeihen. Immer wieder funkte sie die Krankenstation an, aber vergeblich. Auch im Haus konnte sie niemanden erreichen.
»Bitte, lieber Gott, mach, dass sie jemanden schickt«, schluchzte Jo und eilte zurück zu Bountiful Lass.
Beruhigend redete sie auf die Stute ein und untersuchte sie erneut. Ihre Fruchtblase war geplatzt. Bountiful Lass presste zwar heftig, aber von dem Fohlen war nichts zu sehen. Wahrscheinlich lag es falsch. Jo erinnerte sich an den Rat ihres Vaters, man müsse eine Stute, die Schwierigkeiten bei der Geburt hatte, stets in Bewegung halten, bis Hilfe kam. Also lockte Jo die Stute auf die Beine und begann, sie herumzuführen. Vielleicht hatte ja niemand geantwortet, weil Linda schon unterwegs war.
»Bitte, bitte, lass sie den Tierarzt schicken«, flehte Jo immer wieder, während sie Bountiful Lass streichelte.
Hoffnung stieg in ihr auf, als oben auf dem Hügel eine Staubwolke zu sehen war. Am liebsten hätte Jo vor Erleichterung einen Schrei ausgestoßen. Also hatte Linda sie doch ernst genommen. Sekunden später tauchte ein verbeulter Kombi auf, der über die Koppel auf sie zusteuerte und dabei immer wieder den anderen Pferden ausweichen musste, die neugierig herbeigaloppiert kamen. Der Wagen hielt dicht vor den Bäumen, und ein junger Mann Mitte zwanzig in einem Overall sprang heraus und eilte zu Jo hinüber.
»Ich bin Phillip Gregg, der Tierarzt. Schauen wir uns die Stute mal an«, verkündete er und krempelte sich die Ärmel hoch.
»Gott sei Dank«, rief Jo und bemüht sich trotz ihrer zitternden Beine, Bountiful Lass zu stützen.
»Mein Gott, Linda hatte recht, als sie sagte, wir müssten Sie ernst nehmen«, stellte der Arzt überrascht fest, nachdem er sich ein Bild vom Zustand der Stute gemacht hatte. »Sie haben wirklich Ahnung.«
Das Kompliment brachte Jo zum Erröten.
»Ihre Fruchtblase ist vor etwa sieben Minuten geplatzt«, meldete sie atemlos. »Sie presst zwar, aber es passiert nichts.«
Der Tierarzt nickte. Dann holte er hastig einen Eimer und seine Arzttasche aus dem Wagen.
»Ich besorge Wasser«, erbot sich Jo, packte den Eimer und rannte zum Wassertrog.
»Danke«, rief der Arzt ihr nach. Er legte den Inhalt seiner Taschen auf den Beifahrersitz und war froh, dass Jo sich bei diesem Notfall offenbar nicht aus der Ruhe bringen ließ.
Keuchend kam Jo mit dem überschwappenden Eimer zurück.
Der Tierarzt gab ein Desinfektionsmittel hinein und reinigte seine Hände und Arme.
»Können Sie sie festhalten, während ich sie untersuche?«, fragte er und trug großzügig Gleitmittel auf. Während Jo Bountiful Lass beruhigte, schob der Tierarzt seinen Arm bis zum Ellenbogen in den Leib des Pferdes.
»Lass mich mal tasten, altes Mädchen. Stopp, nicht bewegen«, murmelte er leise, als die Stute begann, sich gegen den Eingriff zu wehren.
»Der Kopf hat sich zur Seite gedreht«, meinte er, nachdem er den Arm wieder zurückgezogen hatte, und sah Jo an. »Ich brauche Ihre Hilfe. Schaffen Sie das?«
Die Frage war eher Formsache, und Jo nickte entschlossen.
»Auf dem Rücksitz liegt ein Seil. Tauchen Sie es in Desinfektionsmittel, für den Fall, dass ich es brauchen sollte. Wenn die Stute wieder auf dem Boden liegt, halten Sie ihr den Kopf fest.«
In den nächsten Minuten drehte Phillip, immer wieder unterbrochen von den schmerzhaften Wehen, das Köpfchen des Fohlens im Leib der Stute herum, während Jo Bountiful Lass sanft streichelte. Sie redete beruhigend auf das große Tier ein, das sich stöhnend gegen jede neue Wehe stemmte und immer wieder den Kopf nach hinten wandte, um festzustellen, was der Tierarzt da trieb. Ein Beinchen kam in Sicht. Phillip wies Jo an, das Seil daran zu befestigen, damit es nicht wieder im Mutterleib verschwand.
Jo wünschte, mehr beitragen zu können, während sie das Pferd beruhigte und mit aller Macht das Ende der Geburt herbeiwünschte. Mitfühlend verzog sie das Gesicht, als eine weitere Wehe dem Tierarzt fast den Arm zerquetschte. Endlich gelang es ihm, das zweite Beinchen herauszuziehen. Fliegen umschwirrten seine schweißbedeckte Stirn und seinen Hals. Dann hatte er es geschafft, Kopf und Beine des Fohlens in die richtige Position zu bringen. Keuchend vor Erschöpfung zog er seinen Arm zurück, der durch den Druck der Wehen steif und mit Blutergüssen übersät war. Dann wischte er sich mit dem anderen Arm über die Stirn.
Jos Herz pochte besorgt. Nun konnte das Fohlen kommen. Waren sie schnell genug gewesen? Mit einer letzten, heftigen Wehe presste Bountiful Lass, während Jo sanft an dem Seil zog und dem Fohlen hinaus auf den Boden half. Sein magerer dunkelbrauner Körper schimmerte bläulich durch die schützende Membran. Gerührt sah Jo, dass sich seine kleine Brust langsam hob und senkte. Es lebte. Der Tierarzt ließ die Hinterbeine noch im Mutterleib, damit die Nabelschnur nicht riss, entfernte vorsichtig die Membran vom Kopf des Fohlens und stand auf.
»Es ist ein kleiner Hengst, und sie sind beide wohlauf«, verkündete er mit einem müden Lächeln. Mit dem Tuch, das Jo ihm reichte, rieb er sich kräftig die schmerzenden Arme ab. »Junge, Junge, das war eine ganz schöne Plackerei. Es kann ziemlich anstrengend werden, wenn das Fohlen falsch liegt. Sie haben sich wacker geschlagen, Jo. Vielen Dank.«
Bewundernd blickte Jo zu ihm auf und wischte sich mit dem Handrücken rasch die Tränen ab. Wenig später richtete die Stute sich auf und leckte ihr Fohlen, dessen dunkelbraunes Fell und Köpfchen mit Blut und Schleim bedeckt waren. Wie bei seiner Mutter leuchtete auf seiner Stirn die berühmte Blesse.
Jo streckte sich und holte frisches Wasser, damit der Tierarzt sich säubern konnte. Sie half ihm, seine Gerätschaften zusammenzuräumen, und spürte, wie sich ihre Anspannung allmählich legte. Mutter und Kind waren einfach wundervoll.
Nach weiteren zehn Minuten erhob sich die Stute, wobei die Nabelschnur auf natürliche Weise riss. Phillip tupfte den frischen Nabel mit Jod ab. Bei ihren verzweifelten Versuchen, die Stute zu retten, und ihrer Freude über den Erfolg hatten die beiden die dunklen Wolken nicht bemerkt, die sich drohend am Horizont zusammenballten. Während die Stute die Nachgeburt ausstieß, fiel schlagartig die Temperatur. Ein heftiger Wind kam auf, der an ihren Kleidern zerrte.
»Mir gefällt es gar nicht, den Kleinen hier draußen zu lassen, wenn das Wetter schlechter wird«, rief Phillip. »Sonst verlieren wir ihn vielleicht. Am besten ist, wir nehmen ihn mit.«
Jo nickte zustimmend. Noch während er das sagte, öffnete der Himmel seine Schleusen und durchweichte die beiden innerhalb weniger Sekunden. Der Wind wurde rasch stärker.
Durch peitschenden Regen und Wind kämpften sie sich zu Bountiful Lass hinüber, die ihren Nachwuchs so gut wie möglich gegen die Elemente schützte. Phillip nahm das verschreckte kleine Geschöpf in die Arme und trug es zum Auto. Mit klappernden Zähnen rutschte Jo auf den Beifahrersitz, trocknete das zitternde Fohlen so gut es ging mit einer alten Decke ab und drückte es – beobachtet von einer zunehmend besorgten Bountiful Lass – an sich, um es zu wärmen. Nachdem Phillip die Nachgeburt zur späteren Untersuchung in einem Eimer verstaut hatte, stellte er diesen zu seiner Tasche in den Kofferraum, sprang auf den Fahrersitz und schlug die Tür zu. Der Sturm peitschte die Eukalyptusbäume und trieb den Regen fast horizontal gegen die Windschutzscheibe. Langsam kehrte die kleine Karawane zu den Ställen zurück. Bountiful Lass trottete mit gesenktem Kopf hinter dem Wagen her.
»Eigentlich wollte ich vorschlagen, ihn ›Bright Morning‹ – ›Heller Morgen‹ – zu nennen. Aber ›Crazy Storm‹ – ›Verrückter Sturm‹ – passt wohl besser«, meinte Jo, die inzwischen Phillips bunten Pullover und eine trockene Jeans von Linda trug und im warmen, trockenen Stall stand.
Sie lehnte an der Tür der Box und wandte sich von dem Fohlen ab, das tief und fest im kuscheligen Stroh schlief. Bountiful Lass stand daneben und labte sich genüsslich an frischer Luzerne. Ihr Nachwuchs hatte sich den Bauch mit Colostrum vollgeschlagen, der Erstlingsmilch für Fohlen, von der in Dublin Park stets ein tiefgefrorener Vorrat für Notfälle vorhanden war. Nun stand dem Fohlen, das so heldenhaft darum gekämpft hatte, geboren zu werden, eine glänzende Zukunft bevor.
»›Crazy Storm‹? Gar nicht schlecht. Und Sie sind die Meerjungfrau persönlich?«, meinte Phillip schmunzelnd und griff nach einer ihrer langen, klatschnassen blonden Haarsträhnen. »Sie haben ihm das Leben gerettet, Jo. Das wissen Sie doch?«
Sein Blick wurde auf einmal ernst. Jo glaubte, noch nie so wundervolle sanfte graue Augen gesehen zu haben. Schmetterlinge regten sich in ihrem Bauch. Verlegen schob sie sich die Haare hinter die Ohren.
»Was haltet ihr von ›Kick Up A Storm‹ – ›Unruhestifter‹ –, so wie seine Retterin?«, witzelte Linda. Mit spürbarem Respekt blickte sie Jo an. »Aber wenn du dich hättest einschüchtern lassen, hätten die beiden vermutlich kaum eine Chance gehabt.«
»Das gefällt mir … Kick Up A Storm, willkommen auf der Welt.« Jo erwiderte das Lächeln, und die Feindseligkeit zwischen den beiden Mädchen war mit einem Mal wie weggeblasen.
»Morgen früh komme ich wieder, um nach ihnen zu sehen, Linda«, meinte Phillip fröhlich. »Und um meinen Pulli abzuholen«, fügte er lachend hinzu.
Oh ja, dieses Mädchen hatte das gewisse Etwas.
Am Tag vor ihrer Rückkehr nach Sydney schlenderte Jo über eine große Koppel, auf der einige Zuchtstuten mit ihren Fohlen grasten. Sam lief zufrieden hechelnd neben ihr her, blieb hin und wieder stehen, um etwas zu beschnüffeln, und stürmte dann mit hoch erhobener Rute seiner Herrin nach. Da auf Sam in Gegenwart von Pferden Verlass war, hatte Jo keine Bedenken, wenn er sie begleitete. Außerdem hatten sich die meisten der Tiere inzwischen an ihn gewöhnt.
Die Bienen summten geschäftig im weißen Klee umher, und winzige Falter und Käfer flogen auf, als die beiden weitergingen. Die Stuten weideten friedlich, während ihre Fohlen halb versteckt in dem hohen Gras ruhten, das nach dem Sturm aus dem Boden gesprossen war. Auf der anderen Straßenseite leuchteten die dunkelgelben Blüten der Australischen Silbereiche gegen das Grün und Grau von Eukalyptus und Pfefferbaum an. Jo hielt sich schützend die Hand vor die Augen, genoss die Schönheit des Tales und versuchte, den Anblick in ihr Gedächtnis einzuprägen. In ihr mischte sich die Freude, zu Dublin Park zu gehören, mit der Trauer über den bevorstehenden Abschied. Die üppig grünen Felder schimmerten im Sonnenschein, und zu beiden Seiten des Tals hielten urzeitliche Gesteinsformationen Wacht.
An einem Grashalm kauend, schlenderte Jo weiter, ließ ihren Rücken von der warmen Sonne bescheinen und erinnerte sich an die Ereignisse der letzten beiden Wochen.
Der süße Kick Up A Storm war ein mutiger kleiner Bursche. Jo hatte ihn jeden Tag besucht und erfreut zugesehen, wie er zunahm und genüsslich bei Bountiful Lass trank. Da er sofort nach der Geburt im Arm gehalten worden war, war er im Gegensatz zu vielen anderen Fohlen sehr zutraulich und ließ sich von Jo Nacken und Schultern kraulen. Wenn sie eine Stelle fand, wo er sich besonders gerne streicheln ließ, räkelte er sich wohlig und kräuselte voller Freude die Oberlippe. Jo atmete dabei seinen warmen Duft ein und weidete sich an seinem Anblick.
Außerdem hatte es lange Gespräche mit Elaine gegeben. Es war so schön gewesen, ihrer Großmutter alles anzuvertrauen, und sie war ihr unendlich dankbar, weil sie ihr erlaubte, Linda bei den Pferden zu helfen. Sogar der alte mürrische Rupert hatte sich beruhigt und knurrte Sam nur noch hin und wieder an.
»Ach, wie mir das alles fehlen wird«, murmelte Jo, warf den Grashalm weg und bückte sich nach einem anderen. Als sie sich wieder aufrichtete, machte sie vor Schreck einen Satz, denn eine Stute stürmte wiehernd und schnaubend an ihr vorbei. Im nächsten Moment entdeckte sie ein Fohlen, das, nur wenige Zentimeter von Sam entfernt, versteckt im Gras lag.
»Bei Fuß, Sam«, schrie sie. Zu spät. Die Stute keilte aus und traf Sam an der Brust.
Sam stieß einen erschrockenen Schmerzensschrei aus. Während die Stute ihr Fohlen zur anderen Seite der Koppel scheuchte, sackte er in sich zusammen.
»Sam«, schrie Jo. Sie wurde bleich und eilte auf die Stelle zu, wo ihr Hund nach Atem ringend im hohen Gras lag. Seine großen braunen Augen waren schmerzerfüllt.
Jo sah sich erschrocken und hilflos um. Ihr Puls überschlug sich, und sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es war niemand zu sehen. Sam schien schwer verletzt zu sein und wog zu viel, um ihn zu tragen. Also musste sie eine Entscheidung fällen.
»Du schaffst das, Sam. Ich bin gleich zurück«, keuchte sie. Obwohl sie ihn eigentlich nicht allein lassen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig. So schnell sie konnte, rannte sie über die Koppel zur Straße und hoffte, dass die anderen Stuten ihn während ihrer Abwesenheit in Ruhe lassen würden.
»Er darf nicht sterben, bitte, er darf nicht sterben«, sagte sie sich wieder und wieder.
Mit klopfendem Herzen rannte sie die Schotterstraße entlang zu den Ställen. Jeder ihrer keuchenden Atemzüge schmerzte in ihren Lungen, während sie sich zwang, noch schneller zu laufen.
Der Landrover ihrer Großmutter war das erste Fahrzeug, das sie entdeckte. Jo, die wusste, dass Elaine immer den Schlüssel stecken ließ, sprang in den Wagen und ließ mit zitternden Fingern den Motor an. Nick, der junge irische Stallbursche, kam aus dem Gebäude.
»Hallo, wo willst du so schnell hin?«, rief er fröhlich.
»Nick!«, schrie Jo. »Sam ist verletzt. Eine Stute hat ihn getreten. Ich brauche Hilfe.«
Nick wurde schlagartig ernst und kletterte auf den Beifahrersitz. Nachdem Jo den schweren Wagen gewendet hatte, schlitterte sie durch den nach den Regenfällen immer noch weichen Morast zurück zu Sam.
»Ich muss ihn zum Tierarzt bringen«, stieß Jo hervor, während sie und Nick den inzwischen schlaffen und nach Luft ringenden Sam in den Landrover hoben.
Mit angsterfülltem Blick sah Sam Jo an.
»Schon gut, alter Junge. Das wird wieder«, flüsterte sie und kämpfte mit den Tränen. »Ich fahre nach Denman, Nick. Ruf beim Tierarzt an und sag Bescheid, dass Sam von einem Pferd getreten wurde und kaum noch Luft bekommt«, wies sie Nick an, sprang in den Wagen und fuhr zurück zu den Ställen.
Während Nick ins Gebäude und zum Telefon eilte, gab Jo kräftig Gas. Als sie durch die Furt drei Kilometer vor Dublin Park raste, spritzte das Wasser in alle Richtungen. Ihr Blick wanderte zur Tankuhr: Der Tank war fast leer. Mit einem bangen Gefühl lauschte sie Sams Keuchen. Wenn ihr das Benzin ausging, würde er es nicht schaffen. Dann fiel ihr aber ein, dass die Tankuhr kaputt war. Sie legte eilig die restliche Strecke zur Tierarztpraxis zurück, bog vorsichtig in die Auffahrt des kleinen Holzhauses ein und sah die Tierarzthelferin, gefolgt von Phillip Gregg, auf sich zueilen. Vor Erleichterung wäre Jo beinahe in Tränen ausgebrochen. Inzwischen hatte sich Sams Zahnfleisch bläulich verfärbt, und sein Atem ging flach und stoßweise.
»Wir bringen ihn rein und geben ihm sofort Sauerstoff«, sagte Phillip mit einem mitleidigen Blick auf Jo. »Wir tun unser Bestes, aber er ist nicht mehr der Jüngste.«
Jo krampfte sich der Magen zusammen, doch sie bestand darauf, dabei zu helfen, Sam aus dem Wagen zu heben und ihn in die Praxis zu tragen. Die Assistentin hatte die Sauerstoffmaske schon in der Hand, als Sam auf den Operationstisch gelegt wurde.
»Wir fangen gleich an. Am besten nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Der Herr Doktor kommt dann zu Ihnen«, verkündete die Tierarzthelferin streng, nachdem sie Sam die Sauerstoffmaske angelegt hatte.
Jo blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Enttäuscht blickte sie der jungen Frau nach, die im Behandlungszimmer verschwand, und ließ sich dann, plötzlich erschöpft, auf einen der harten Holzstühle fallen.
»Du musst überleben, Sam, du musst einfach«, schluchzte sie leise. Sie durfte ihn nicht verlieren. Nicht Sam, der Trauer und Freude mit ihr geteilt hatte und ihr ständiger Begleiter geworden war. Der liebenswerte, zutrauliche, alberne alte Sam, der immer wusste, wann sie Trost brauchte, und der stets für sie da war.
Die Minuten schleppten sich endlos dahin. Jo sprang immer wieder von ihrem Platz auf, ging in dem stickigen kleinen Raum hin und her und kaute an ihren Fingernägeln. Nur das Summen einer einsamen Fliege durchbrach die Stille. Sie hätte wissen müssen, dass die Stuten so schreckhaft waren. Doch sie hatte das Fohlen weder gesehen noch damit gerechnet, dass die verängstigte Mutter sie angreifen würde. Sam war es genauso ergangen. Schließlich betrachtete er die Pferde als seine Freunde.
»Bitte nicht Sam. Nicht das Letzte, was mir von Rick noch geblieben ist«, flüsterte sie, starrte auf einen dunklen Fleck auf dem Boden und erinnerte sich an den verdutzten Blick des Hundes. Dann presste sie die Faust vor den Mund, biss sich auf die Fingerknöchel und versuchte, ihre Verzweiflung zurückzudrängen. Sam würde durchkommen. Phillip konnte nicht zulassen, dass er starb. Wieder lief sie im Zimmer auf und ab und nestelte an ihrem Haarband herum.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, ging die Tür auf, und Phillip kam herein. Jos Herz machte einen Satz. Sie fühlte sich auf grauenhafte Weise an die Szene im Wartezimmer des Prince-of-Wales-Krankenhauses erinnert.
»Ist er …? Ist er …?«, flüsterte sie.
»Ich muss zugeben, dass er uns eine Weile Sorgen gemacht hat«, erwiderte Phillip.
Jo stieß einen lauten Seufzer aus. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, das Haar fiel ihr ins Gesicht, und ihre Lippen zitterten.
»Der Tritt hat einen Lungenriss verursacht, und einige Rippen hat er sich auch gebrochen. Genaueres wissen wir erst, wenn wir die Röntgenaufnahme haben«, erklärte Phillip. »Außerdem hat er einen sogenannten Pneumothorax: Luft ist in die Brusthöhle ausgetreten. Ich habe es geschafft, sie abzusaugen. Deshalb kann er wieder besser atmen und quält sich nicht mehr so. Er muss die nächsten zwei bis drei Tage bei uns bleiben. Mit ein bisschen Ruhe ist er in ein paar Wochen so gut wie neu.«
Ungläubig starrte Jo Phillip an und brauchte ein wenig Zeit, um diese Nachricht zu verarbeiten.
»Soll das heißen, dass er wieder gesund wird? Mein Sam …« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Vor lauter Erleichterung fiel sie Phillip um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
Phillip sah das junge Mädchen an, dem die Tränen übers Gesicht liefen. Als er ihren bebenden Körper so dicht an seinem spürte, vergaß er ganz, dass er Tierarzt war und gerade einem Hund das Leben gerettet hatte. Er küsste Jo auf den Mund. Fünf köstliche Sekunden lang genoss er das Gefühl ihrer weichen, vollen Lippen und fuhr ihr mit der Hand ganz automatisch durch das seidige Haar. Vom berauschenden Duft ihres warmen Körpers wurde ihm ganz schwindelig.
Jo wich zurück. Der Zauber des Augenblicks war verflogen. Erschrocken über sein unschickliches Verhalten, ließ Phillip die Hände sinken, machte einen Schritt rückwärts und lief feuerrot an. Er räusperte sich.
»Wenn du magst, kannst du ihn morgen besuchen«, stammelte er.
Dann drehte er sich um und ging, immer noch wie benommen wegen des Kusses, ins Behandlungszimmer. Dass er sich gerade so vergessen hatte, war ihm schrecklich peinlich.
Sam lag auf dem Boden. Er atmete normal, und seine Augen waren geschlossen. Neben ihm saß die Arzthelferin mit der Sauerstoffmaske in der Hand, für den Fall, dass er wieder Atemnot bekommen sollte. Tränen verschleierten Jos Blick. Sie wischte sie weg und kniete sich neben ihren Hund, der kurz die braunen Augen aufschlug und schwach mit dem Schwanz wedelte. Nachdem Jo eine Weile beruhigend auf ihn eingeredet hatte, stand sie wieder auf.
»Er braucht Ruhe«, sagte Phillip leise und beherrscht und begleitete Jo hinaus zum Auto.
»Ich komme morgen wieder«, meinte sie. Bereits eine Hand am Schalthebel, saß sie im Landrover. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, dass du ihn gerettet hast. Er war der Hund meines Bruders. Du kanntest Rick nicht, oder?«
Ihr trauriges Lächeln versetzte Phillip einen Stich ins Herz.
»Nein, aber deine Großmutter hat viel von ihm erzählt«, erwiderte er und hatte Mühe zu verhindern, dass seine Stimme zitterte. Er konnte nur daran denken, dass er sich bis über beide Ohren in dieses Schulmädchen verliebt hatte. Und dass sie in wenigen Sekunden davonfahren würde.
»Dann bis morgen, so gegen sieben«, sagte Jo lächelnd und ließ den Motor an.
»Abgemacht«, entgegnete Phillip. Allerdings hatte er völlig vergessen, dass er heute nur Vertretungsdienst in dieser Praxis gehabt hatte und morgen weder hier noch in Dublin Park sein würde. Er musste nämlich auf einem Gestüt nach dem Rechten sehen, das ein gutes Stück entfernt von Hunter Valley lag, ein Besuch, der vier Tage in Anspruch nehmen würde. Bis dahin würden Jo und Sam längst nach Sydney zurückgekehrt sein, sodass ihm nur die Erinnerung blieb.
»Wahrscheinlich ist es das Beste so«, dachte er, schlagartig ernüchtert, als der Landrover in der Ferne verschwand.
Wenn es sich herumsprach, dass er die Besitzerinnen seiner vierbeinigen Patienten küsste – insbesondere, wenn es sich dabei um junge Mädchen handelte –, würde er sich bald nach einer anderen Stelle und einem neuen Wohnort umsehen müssen. Aber er konnte einfach nicht vergessen, wie sich Jos Lippen auf seinen angefühlt hatten.
Die Schatten wurden bereits lang, als Jo Dublin Park erreichte. Sie war unglaublich erleichtert, dass Sam durchkommen würde, auch wenn ihr der Wagen ohne ihn merkwürdig leer erschien. Leicht strich sie sich mit dem Finger über die Lippen. Hatte Phillip sie wirklich küssen wollen, oder war es nur ein Versehen gewesen?
Ein wohliger Schauder durchlief sie. Er war sicher mindestens sechsundzwanzig Jahre alt und sah außerdem sehr gut aus.
Sie hatte sich gern von ihm auf die Lippen küssen lassen, auch wenn es nur ein einmaliger Ausrutscher war.
Elaine kam aus dem Haus gelaufen, um sie zu begrüßen. Jo schob sich das Haar hinter die Ohren und hoffte, ihre Großmutter würde Verständnis dafür haben, dass sie mit dem Familienauto bis nach Denman gefahren war, obwohl sie gar keinen Führerschein hatte.
»Nick hat mir erzählt, was Sam zugestoßen ist, mein Kind«, rief Elaine besorgt aus.
Langsam stieg Jo aus dem Wagen und schloss die Tür. Ihr Hochgefühl wegen Sams Überleben war mit einem Mal wie weggeblasen, und sie war unbeschreiblich müde.
»Er wird durchkommen, Gran«, antwortete sie und begann vor Erleichterung zu weinen.
Elaine legte den Arm um ihre Enkelin und brachte sie ins Haus, während Jo die ganze Geschichte heraussprudelte.
»Ich hatte solche Angst, Gran. Ich dachte wirklich, ich hätte ihn verloren«, sagte sie, setzte sich und sah zu, wie ihre Großmutter den Teekessel aufsetzte.
»Du hattest Glück, dass Phillip Dienst hatte. Er ist ein ausgezeichneter Tierarzt«, antwortete Elaine.
Wayne, der ein altes Hemd und eine Arbeitshose trug, kam in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Nachdem er die Flasche geöffnet hatte, nahm er einen großen Schluck.
»Du hast mehr Mumm in den Knochen, als ich den Bälgern meines Bruders zugetraut hätte«, brummte er mürrisch und blickte Jo aus kalten grauen Augen an.
»Ich denke, die vergangene Woche war für uns alle aufregend«, sagte Elaine, die bemerkte, wie Jo sich über diese Bemerkung ärgerte. »Jo, mein Kind, am besten setzt du dich sofort an deine Schulbücher, da du noch ein paar Tage länger bleiben wirst. Ich rufe deinen Dad an und erkläre ihm, was geschehen ist. Übrigens«, fügte Elaine auf dem Weg zum Telefon hinzu, »halte ich es für besser, wenn wir verschweigen, dass du mit dem Landrover auf öffentlichen Straßen herumgefahren bist. Einverstanden?«
»Ich liebe dich, Gran«, erwiderte Jo mit einem verlegenen Grinsen.